Ausnahmezustand in Ehningen: Wie die Lemminge ziehen die Menschen in den Ortskern. Aus allen Einfallsstraßen quellen Besucher von außerhalb. Es ist Pfingstmarkt! Und keiner will ihn versäumen, obwohl er jedes Jahr gleich abläuft. Oder vielleicht gerade deshalb?
VON WERNER HELD
EHNINGEN. Kittelschürzen, Wiesensalbei-Blütensirup, Feinkniestrümpfe, Magenrebell, Perlenherz und Hopfenkäse: Es gibt nichts, was es an den über 200 Ständen auf dem Ehninger Pfingstmarkt nicht gibt. Und sage niemand, dass die Geschäfte nicht laufen! Die Marktleute von heute müssen den Ehninger Altvorderen dankbar sein, dass sie 1837 das Marktprivileg beantragt und bewilligt bekommen haben. Seitdem ist Ehningen am Pfingstmontag aus dem Häuschen. Stand einst der Viehmarkt im Mittelpunkt, begleitet heute ein nicht minder zugkräftiges Volksfest samt Rummel den Krämermarkt.
Verkehrsstillstand: Kurz vor elf kommt in der Schlossstraße der Fußgängerverkehr erstmals zum Stillstand. Immer wieder gibt es ein bisschen Luft, zehnzentimeterweise schieben sich die Menschen vorwärts. Bald schon verdichtet sich auch an anderen Stellen rund um den Marktplatz der Verkehr zum Stop and Go. Obwohl der Pfingstmarkt seine ursprüngliche Bedeutung für die Versorgung der Landbevölkerung längst verloren hat, ist in vielen Menschen auch heute noch die Überzeugung verwurzelt, bei Marktleuten günstiger einkaufen zu können als im Laden oder Waren angeboten zu bekommen, die es in Supermärkten und Fachgeschäften in der von früher her bekannten Ausführung und Qualität nicht gibt. Hüte, Hosenträger, Unterwäsche, Socken, Kurzwaren, Schürzen, Gewürze und Tee gehören zu diesen Produkten.
Wundermittel: „Net bloß am Auto ’s Öl wechsle“, ruft der Mann mit dem kahlen Kopf in die Menge, die sich vor seinem Stand gebildet hat. „Das“, sagt er und schlägt sich mit der rechten Hand mehrfach auf die linke Seite der Brust, „pumpt jeden Tag 10000 Liter durch euren Körper.“ Und damit das Herz auch weiterhin beschwerdefrei arbeitet, empfiehlt er Knobi-Vital – morgens und abends mit reichlich kohlensäurefreiem Wasser einzunehmen. Die Kräuter-Knoblauch-Tabletten sind nicht das einzige Wundermittel, das er feilbietet. Als er aufs Allgäuer Kräuteröl kommt, reckt einer im Publikum die Hand. „I nemm oins“, ruft ein Mann im mittlerem Alter, noch ehe der Händler zu erklären beginnt, wieviel Geld der Kunde spart, wenn er das ganze Sortiment nach Hause trägt.
Ort der Begegnung: „So, bisch au z’Märkt?“, haut ein Mann einen Passanten an, der im Gegenstrom auf ihn zu kommt. Zum letzten Mal sind sich die beiden auf dem Pfingstmarkt vor einem Jahr begegnet. Der Markt ist auch ein Ort der Begegnung – vor allem der Begegnung mit jenen Ehningerinnen und Ehningern, die die Gemeinde schon längst verlassen haben, die es zu Pfingsten aber immer wieder in die alte Heimat zurückzieht, und mit weitläufig Verwandten und Bekannten aus den Nachbarorten, die man nur auf dem Pfingstmarkt sieht. Die zwei, die sich gefunden haben, fangen einen Plausch an. Doch sie können der drängenden Masse nur kurz standhalten. Als sie sich wieder in den Strom einreihen, brauchen sie eine Weile, bis sie ihre Begleiter in der Menge wiederentdecken.
Perfektes Schneidergebnis: Schneiden, reiben, raspeln, vierteln, achteln: Der Genius-Nicer-Dicer ist eine Allzweckwaffe in der Küche. Und der, der ihn anpreist, handhabt ihn virtuos. Berge von Möhren, Zwiebeln, Kartoffeln, Radieschen häckselt er in kleine Würfelchen. Als er eine ganze Tomate auf das Gerät legt, schreckt eine Frau mit weißer Jacke in der ersten Reihe zurück. „Keine Angst“, beruhigt der Dicer-Führer, drückt einmal kräftig zu und saubere Tomatenspalten fallen in den Auffangbehälter. „Ein perfektes Schneidergebnis“, schwärmt der Mann. Und als er auch noch verrät, dass die Küchenhilfe in fünf Sekunden unter dem Wasserhahn wieder blitzsauber wird, fällt vielen kein Argument mehr ein, vom Kauf der Wunderwaffe Abstand zu nehmen. „Im Fernsehen zahlen Sie 39 Euro für das Gerät“, setzt der Händler, wohl wissend, wo heute seine Konkurrenz sitzt, noch einen drauf, „und es kostet noch sieben Euro Porto. In unserer Jubiläumsaktion bekommen Sie es für 30 Euro.“ Scheine werden über das Gemüseschlachtfeld gereicht. Und wem das große Gerät mit allem Schnickschnack zu teuer ist, leistet sich wenigstens die preisgünstigere abgespeckte Version.
Hin- und hergerissen: Am Topfblumenstand läuft das Geschäft noch verhalten. Wer will schon einen Blumentopf in jeder Hand den ganzen Tag durch das Gedränge bugsieren? Doch wer was Schönes will, kann nicht ewig warten, sonst sind die besten Gewächse weg. Und so sieht man immer mehr Zitronenbäumchen, Glockenstöcke und Orchideen durch die Menge wippen.
Schwer beschäftigt: Wenn der Pömpel nicht mehr hilft und Chemikalien verpönt sind, kommt der Druckrohrreiniger zum Einsatz. Seit 25 Jahren wird das Teufelszeug auf dem Pfingstmarkt verkauft. Seit 25 Jahren staunen die Menschen darüber, wie kurze Stöße aus der Druckluftdose selbst hartnäckige, mutwillig herbeigeführte Verstopfungen in den durchsichtigen Röhren in der improvisierten Küche durchblasen. Doch heute hat der Mann mit der Kurzhaarfrisur in Jeans und kleinkariertem Hemd fast keine Zeit für seine Vorführung. Kaum hat er ein paar Dosen an Stammkunden verkauft, eilt er weiter zum Nachbarstand. Dort bietet der Sanitärspezialist jetzt auch noch Quadcopter an, viermotorige Spielzeuggefährte, die bestückt mit einer Minikamera durch die Lüfte sausen. „Ich bin gleich wieder da“, ruft der Luftfahrtexperte, rudert durch die Menge in den gegenüberliegenden Hof, wo sein Aircraft eine ungeplante Landung hingelegt hat. Doch das so zerbrechlich wirkende Fluggerät scheint robust zu sein: Zwei, drei Handgriffe und der Quadcopter ist wieder startklar. Als die Verkaufsschau in die Phase tritt, in der die Geldbeutel geöffnet werden, öffnet der Himmel seine Schleusen. Bevor der Händler einem Kaufwilligen den Betrieb der Drohne erklären kann, baut er einen riesigen Schirm auf, um seine Luftflotte vor dem Absaufen zu bewahren.
Vergnügungen im Schulgarten: Kinder ziehen ihre Eltern weiter zum Rummel in den Garten der Fronäckerschule. Eine Schiffschaukel, deren Kabinen Hochsicherheitstrakten gleichen, Boxautos, mit denen man gar nicht mehr zusammenboxen darf (wenn man sich an die an der Fahrbahn aushängenden Sicherheitsbestimmungen hält), Ketten- und Kinderkarussell warten auf Vergnügungssüchtige. Das Vergnügen ist teuer und von kurzer Dauer. Doch die Oma oder der Vater öffnen bereitwillig den Geldbeutel, denn am Pfingstmarkt gelten auch für den knausrigsten Schwaben eigene Gesetze. Da leistet man sich sogar traditionell ein Essen außer Haus. Kamen früher in den Gaststätten Bratwürste auf den Tisch, gibt es heute verstreut über das ganze Marktgelände alles, was das Herz begehrt. Um die Mittagszeit ist das Festzelt im Schulgarten proppenvoll. Die Frauen und Männer vom Musikverein, die für Speis und Trank sorgen, haben alle Hände voll zu tun. Und wer mal im Festzelt sitzt, der sitzt: Er vergisst den Markt, lässt sich den Kopf von der Musik volldröhnen, saugt die fettgeschwängerte Luft tief ein und bestellt noch ein Bier.